Die Stadtgestaltung der Zukunft.
Um Städte auch in Zukunft lebenswert, gesund, klima- und sozialgerecht zu gestalten, muss grundlegend neu gedacht werden.
Unsere heutigen Städte sind häufig geprägt durch gesichtslose Investorenprojekte, verschlossene Bürokomplexe und austauschbare Konsumangebote. Verkehrsflächen sind für den individuellen KfZ-Verkehr ausgelegt, großflächige Parkplatzbuchten säumen unsere Straßenzüge, werden also von wenigen besetzt und lassen wenig Freiraum für Begegnung, Bewegung und Grün für viele.
Aktuell ist der Gebäudesektor nicht nur der größte CO2-Verursacher, sondern auch der Ressourcenfresser Nr.1 und gleichzeitig verantwortlich für über die Hälfte des Abfallaufkommens in Deutschland (Quelle 1). Hier kann und muss also an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden, um die Pariser Klimaziele einzuhalten und die planetaren Grenzen zu wahren. Nutzer:innen und Bauherr:innen sind bei dieser notwendigen Transformation ebenso gefragt, wie Planende und die Politik.
Wir, von Architects for Future Deutschland e.V., haben eine Vision der Stadt 2035. Das ist das Jahr, das im Pariser Klimaschutzabkommen als das Jahr genannt wird, bis zu dem wir es als globale Gesellschaft schaffen müssen das 1,5 Grad Ziel einzuhalten, um unserer und den folgenden Generationen das Recht auf eine lebenswerte Zukunft zu gewähren. Um dafür die Weichen zu stellen, sind bereits die nächsten fünf Jahre entscheidend. Dass es so kommt, dafür setzen wir uns ein. Jetzt!
Wie sieht diese Stadt der Zukunft also aus?
Städte gehören den Bürger:innen und richten sich vor allem an ihren Bedarfen aus.
Die Wohnviertel und Nebenstraßen in den Innenstädten sind schon seit den späten 2020iger Jahren autofrei. Das Missverhältnis in der Flächenverteilung zwischen Menschen und Autos ist wieder ausgeglichen. Die vielen Flächen, die früher durch parkende und im Stau stehende Autos besetzt waren, sind zu einem Großteil der gemeinschaftlichen Nutzung und Begrünung zugeführt. Sprechen uns viele der historischen Fotos von Städten nicht auch an, weil die Straßenzüge an sich mit weniger KfZ und mehr Raum für Menschen und Natur abgebildet sind?
Dieses Bild haben wir 2035 wieder erreicht:
Der individuelle Autoverkehr ist insgesamt auf ein Minimum reduziert und der notwendige Verkehr zur Anlieferung sowie weitverbreitete Carsharingangebote und der ÖPNV in Gänze emissionslos. Dies reduziert die Lärmbelastung und erhöht merklich die Luftqualität. Beides trägt zu unserem Wohlbefinden und unserer Gesundheit bei.
Die Fortbewegung in der Stadt ist dadurch auch insgesamt sicherer. Die “Vision Zero” von null Verkehrstoten ist, im Gegensatz zu fast 1200 Geschädigten (davon 6 verstorben und 136 schwerverletzt) in Berlin allein im Pandemie-Januar 2021, Realität geworden. (Quelle 2)
Radfahrende haben ausreichend Platz, um auch mit Lastenrädern und nebeneinander zu fahren. Auch wenig geübte Radfahranfänger:innen trauen sich dadurch die klimaneutrale Fortbewegung auszuprobieren.
Gehsteige sind so großzügig ausgelegt, dass entspanntes Flanieren möglich ist und darüber hinaus sowohl die sozialen Einrichtungen und Begegnungsflächen, als auch der heterogene Einzelhandel und Gastronomie noch Bereiche für ihre Angebote erhalten. So entsteht ein buntes Straßenbild, das lokale Versorgung und angenehme Aufenthaltsqualität gleichzeitig bietet.
Ein Teil der freiwerdenden Verkehrsflächen wurde für die Nachverdichtung bei Wohn- und öffentlichen Bauten genutzt. Dies hat den innerstädtischen Flächendruck stark reduziert, so dass die Neuversiegelung von Flächen am Stadtrand gestoppt werden konnte. Kaum mehr vorstellbar, dass die täglich neu versiegelte Fläche in Deutschland im Jahr 2020 noch bei 52 Hektar lag. (Quelle 3)
2035 ist es Standard, dass Fassaden und Dächer begrünt sind und unmittelbar am Gebäude ausreichend Grün- und Versickerungsflächen geschaffen werden. So wird hier ein Ausgleich für die jahrzehntelange Zerstörung von Insekten- und Kleintierhabitaten geschaffen sowie Hitzewellen und Überschwemmungen vorgebeugt.
Diese vertikalen Grünflächen tragen nicht nur ausgleichend zum Mikroklima in den Städten bei, sondern sind auch ein natürlicher und effektiver Hitzeschutz im Sommer, sowie dämmende Isolation im Winter.
Insgesamt wurde der Gebäudebestand in den letzten Jahrzehnten fast gänzlich energetisch saniert, so dass die benötigte Verbrauchsenergie pro Quadratmeter auf ein Minimum gesunken ist. Dieser Effekt wurde auch dadurch erheblich beschleunigt, dass immer mehr Menschen ihren tatsächlichen Wohnflächenbedarf überdachten. Unter anderem durch die Einplanung gemeinschaftlich genutzter Räume in Mehreinheitenhäusern konnte der Trend, im Gegensatz zur Verdopplung der Wohnfläche pro Kopf zwischen den Jahren 1965 und 2019, gestoppt werden. (Quelle 4) Durch die schnelle Etablierung von seriell herzustellenden und verbaubaren Dämmsystemen mit nachwachsenden Rohstoffen, wie Zellulose oder Gräser-Lehm-Verbundputzen, fungieren Gebäude 2035 sogar als CO2-Speicher.
Der Großteil des verbleibende Energie-, Heiz- und Wasserbedarfs wird in direkter Umgebung zum Verbrauchsort erzeugt. Über PV-Anlagen auf den Dächern und an den Fassaden, Wärmepumpen sowie Regen- und Grauwasser-Nutzung reduziert sich der Aufwand der Aufbereitung, die Verluste durch lange Leitungswege und die Abhängigkeit von zentralen Groß-Anlagen. Mit der Verbrauchsenergie sanken auch die Nebenkosten.
Um Wohnraum darüber hinaus auch in Innenstadtlagen bezahlbar zu machen und die Durchmischung und Entghettoisierung zu fördern, wurden zunächst die brachliegenden Flächen und Gebäude in den Innenstädten nachverdichtet und Umnutzungen vereinfacht. So konnte beispielsweise auch auf Gewerbebauten aufgestockt oder diese bei Leerstand gleich zu Wohnflächen umgebaut werden.
Gemeinsam mit einer parallel laufenden Holzbauoffensive für mehrstöckige Wohnbauten konnte schon Mitte der 2020iger Jahre ausreichend bezahlbarer, barrierefreier und klimaneutraler Wohnraum geschaffen werden. Dank einer bewussten Bevorzugungen von generationsübergreifenden Baugruppen, der Erleichterung von Wohnungstauschbörsen und einer vorausschauenden Planung von flexiblen Grundrissen, die je nach Bedarf und ohne größeren Aufwand angepasst werden können, kam eine auf vielen Ebenen erleichternde Dynamik in den Wohnungsmarkt. Dieser orientiert sich 2035 an den Lebensabschnitten und Lebensrealitäten der Menschen. Die großen Wohnflächen, die beispielsweise notwendig sind, wenn der Nachwuchs klein ist, nach dem Auszug der Kinder und mit zunehmendem Alter aber ggf. zur Last werden, können ohne Verlust des sozialen Umfeldes und drohenden Mietsteigerungen reduziert werden und der nächsten Familiengeneration zu Gute kommen.
Hier fand ein Umdenken sowohl unter den Bürger:innen, als auch bei den Planer:innen statt: Schon bei der Grundlagenermittlung findet eine Bedarfsanalyse für die Gebäudenutzung statt. Sie ist, neben Konzepten für die alternative Nutzung und den Rückbau der Bausubstanz, Bestandteil der Baugenehmigungen. Grundrisse und Deckenhöhen werden heute auch für zukünftige Nutzungen mitgedacht. Skelettbauweisen, vorausschauende statische und technische Planungen sowie leicht rück- und wieder einbaubare Zwischenelemente machen das möglich. Dadurch sind Abrisse nicht mehr nötig, Gebäude werden, falls sie nicht umgebaut werden können, selektiv und materialschonend zurückgebaut und so als erneute Material- und Rohstoffquelle genutzt. Durch die konsequente Verwendung von Sekundärbaustoffen und der Weiternutzung von Baustoffen und Bauprodukten wurde der schon Anfang der 2020iger Jahre aufkommenden Ressourcenknappheit effektiv entgegengewirkt. (Quelle 5) Damals schon setzte sich das Bewusstsein durch, dass es mehr und mehr darum geht, zunächst vor allem den Bestand zu sanieren und weiterzunutzen. Falls Abriss und Neubau auf Grund von sozialen oder klimaökologischen Gründen dennoch notwendig ist, gilt es die bereits verbauten Bauteile wiederzuverwenden und vorhandene Rohstoffe weiter- und umzunutzen.
Durch die Fokussierung der Baulehre an Hoch- und Berufsschulen auf nachhaltiges Bauen und Bauen im Bestand, fand eine neue Wertschätzung der bestehenden Gebäudesubstanzen und Ressourcen sowie eine klare Hinwendung zu nachwachsen, ökologischen Baustoffen statt.
Hier ist im Laufe der Jahre auch der Gesundheitsaspekt mehr und mehr in den Fokus gerückt. Synthetische, erdölbasierte oder Baustoffe, die Lösungsmittel und andere schädliche Chemikalien enthalten, konnten sich in den letzten Jahren auf Grund der transparenten Einpreisung aller Umwelt- und Gesundheitsfolgekosten sowie durch den Wegfall der Subventionen für nicht nachhaltige Produkte nicht mehr auf dem Markt behaupten.
Auch in der Stadtplanung spielt der Aspekt der Gesundheit 2035 eine entscheidende Rolle. Nicht nur an den Fassaden auch in der Fläche finden wir heute viel mehr Grünanlagen, die sowohl das Mikroklima sowie Tier- und Pflanzenwelten schützen, als auch zur Bewegung und zum Aufenthalt an der frischen Luft zur physischen und psychischen Erholung einladen. Inzwischen ist es üblich, dass Bürogebäude oder Einkaufszentren einen Mehrwert zum gesellschaftlichen Leben leisten und Flächen öffentlich und ohne Konsumzwang zugänglich machen.
Vorausschauende, bedarfsorientiert planende Stadtverwaltungen haben hier in den vergangenen Jahren bei der Bauland- und Genehmigungsvergabe mehr und mehr ökologische und gemeinwohlorientierte Konzepte zum Entscheidungskriterium gemacht.
Gestaltungsbeiräte und Beteiligungsformate gehören als Möglichkeiten der Mitgestaltung inzwischen zum Projektprozess. Bewohner:innen identifizieren sich dadurch mit ihren Nachbarschaften, übernehmen Verantwortung und tragen langfristig zur Lebendigkeit und Vielfalt der Viertel bei. Die partizipative Planung ist dabei die Grundlage, durch die Aneignung der Menschen wird der Raum dann zum “Seelenort”, einem Ort der Identität stiftet und ein Zuhause für viele sein kann.
Eine solche klima- und sozial nachhaltige Stadtentwicklung ist auch abgerückt vom Stadtzentrum, das alles bietet. Durch die Stärkung von polyzentrischen Strukturen hat der ländlichen Raum an Attraktivität gewonnen und der Druck auf die Städte hat sich deutlich verringert. Homeoffice-Angebote und der massive quantitative sowie qualitative Ausbau an ÖPNV-Angebote und Radschnellwege zwischen Stadt und Umgebung schaffen hier viel Potenzial für Synergien und Ausgleich. Standard ist, dass in maximal 15 Minuten Fuß- oder fünf Minuten Radweg die wichtigsten, lebensnotwendigen Infrastrukturen erreichbar sind.
Zurück ins Jahr 2021.
Unsere Vision kostet Geld und sie wird nicht von heute auf morgen passieren können. Das Nichthandeln aber wird uns und die kommenden Generationen ökologisch und auch finanziell teurer zu stehen kommen, als die Anstrengungen und Kosten, die wir jetzt und umgehend aufnehmen müssen. (Quelle 6) Die gesamte Klima-Bewegung wächst und wird nicht müde, die Dringlichkeit zu betonen. Ob wir das 1,5 Grad Ziel halten oder nicht, betrifft uns alle. Der Bau und Betrieb von Gebäuden ist dabei der entscheidende Klima- und Ressourcenhebel. Architektur trägt damit über die baukulturelle Gestaltung und strukturelle Funktionalität auch eine soziale und politische sowie immense ökologische Verantwortung. Den Großteil unseres Lebens verbringen wir in Räumen oder sind von Gebäuden umgeben. Nachhaltigkeit, saubere Luft zum Atmen in Gebäuden und draußen und gesunde, bezahlbare Wohnungen sollten kein Luxusgut sein. Das geht uns alle an. Wie wir das schaffen? Es gibt ausreichend Leuchtturmprojekte die zeigen, dass es wirtschaftlich und ästhetisch möglich ist, nachhaltig zu Bauen. Jede:r einzelne Bauherr:in und Planer:in ist gefragt, zu prüfen, was ökologisch und sozial sinnvoll und verantwortbar ist. Um die großen Stellschrauben zu drehen, müssen darüber hinaus die politischen Rahmenbedingungen entsprechend weitblickend geändert werden, langfristig Anreize geschaffen und klare Grenzwerte eingeführt werden. Das nachhaltige Bauen muss raus aus der Nice-to-have-Öko-Nische und neuer Standard werden.
Wir brauchen eine transparente Ökobilanzierung, die die ökologischen Auswirkungen ohne Bilanzierungslücken über den gesamten Lebenszyklus eines Materials, aber auch eines Gebäude betrachtet. Wir brauchen mehr Mut und Möglichkeiten zu einer Kreislaufwirtschaft, dem Arbeiten mit Sekundärbaustoffen und wiederverwendeten Produkten sowie nachwachsenden Rohstoffen. Insgesamt braucht es ein klares Umdenken zur Suffizienz. Diese Grundsätze müssen in der Lehre und Ausbildung, in Gesetzen und Regelwerken vornehmlich abgebildet werden. Bauen, wie wir es im Moment betreiben ist weder klima- noch sozialgerecht und daher nicht zukunftsfähig! Nicht in Deutschland und nicht global betrachtet.
Wer sich die Tatsachen, Zusammenhänge und Konsequenzen einmal vor Augen geführt hat und feststellt, dass es längst möglich und wie dringend es nötig ist, merkt dass daran kein Weg vorbei führt, keine Ausreden mehr gelten. Der Einsatz für und das Mitgestalten an dieser zukunftstauglichen Vision macht Spaß und setzt neue Dynamiken frei. Das erleben wir schon heute an den Stellen, an denen bereits gemeinschaftlich, kreativ und visionär begonnen wurde Gebäude-, Stadt- und Raumplanung proaktiv und zukunftsorientiert zu entwickeln. Hier entstehen Orte der positiven Identität, an denen sich gerne aufgehalten wird, die gerne besucht werden und für die gemeinschaftlich Verantwortung übernommen wird.
Mehr Grün, mehr Miteinander, mehr Zufriedenheit, mehr Gesundheit. Das motiviert uns für diese Vision einer ökologisch nachhaltigen, sozial – und klimagerechten Stadt einzustehen und unermüdlich dafür zu werben. Seid dabei! Die ist eine herzliche Einladung!
Architects for Future Deutschland e.V.
Mitarbeit: Elisabeth Broermann, Charlotte Bofinger, Veit Burgbacher, Andrea Heil
Quellen:
01 – https://www.ressource-deutschland.de/themen/bauwesen/
02 – https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/04/
PD21_198_46241.html;jsessionid=AB49BBBA5DE115D086E78433F41DA6D5.live712
03 – https://www.bmu.de/themen/europa-internationales-nachhaltigkeit-digitalisierung/nachhaltige-entwicklung/
strategie-und-umsetzung/reduzierung-des-flaechenverbrauchs/
04 – https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36495/umfrage/wohnflaeche-je-einwohner-in-deutschland-
von-1989-bis-2004/#:~:text=Die%20Statistik%20zeigt%20die%20Wohnfl%C3%A4che,Wohnfl%C3%A4che%20in%20-Deutschland%2047%20Quadratmeter
Und https://www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/wohnflaeche#folgen-derflachennutzung-
durch-wohnen-fur-die-umwelt
Und https://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/daten/soz_indikatoren/Schluesselindikatoren/
W004.pdf
Und https://www.swr.de/odysso/entwicklung-des-wohnraums/-/id=1046894/did=21039866/
nid=1046894/ak2vmw/index.html#:~:text=1965%20liegt%20die%20durchschnittliche%20Wohnfl%C3%A4che%20pro%20Person%20bei%2022%20Quadratmetern
05 – https://www.deutschlandfunk.de/sand-ein-nur-scheinbar-unendlicher-rohstoff.724.de.html?dram:article_
id=460151
Und https://recyclingportal.eu/Archive/64352
06 – https://germanwatch.org/de/1654
Und https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/klimawandel/38487/kosten-des-klimawandels